Frugale Innovation

Wenn neue oder aktualisierte Produkte auf den Markt kommen, übertreffen diese hinsichtlich Umfang und Komplexität in der Regel ihre Vorgänger. Die Hersteller werden dabei von der Annahme getrieben, dass die Kunden mit jeder Generation mehr Leistung erwarten. In der Realität übersteigen die Angebote der Unternehmen jedoch oft die eigentlichen Bedürfnisse und Wünsche der Nutzer.

 

Exemplarisch sind hier moderne Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen oder Wecker. Erstere wird mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Programmen ausgeliefert, um dann über die gesamte Lebensdauer fast ausschließlich 40-Grad-Wäsche zu bewältigen. Und Letzterer verfügt über diverse Einstellungsmöglichkeiten, besitzt aber nur drei Tasten auf der Rückseite für deren Bedienung. Viele Käufer würden im Gegenzug für einen niedrigeren Preis auf viele dieser Funktionen komplett verzichten – solange die Qualität nicht beeinträchtigt wird. Genau an dieser Stelle setzen Frugale Innovationen an.

 

Ein moderner Mythos aus den Anfängen der Raumfahrt treibt die Thematik anschaulich auf die Spitze. Mit dem Start ihres Weltraumprogramms sahen sich die US-Amerikaner mit einem eher trivialen Problem konfrontiert: Wie sollen sich die Astronauten im All Notizen machen? Kugelschreiber funktionieren in der Schwerelosigkeit nicht, da die Tinte nur durch die Schwerkraft nach unten zur Mine fließen kann. Die NASA setzte daraufhin tüchtige Ingenieure und viel Geld in Bewegung, um einen Kugelschreiber zu entwickeln, der auch im Weltraum funktioniert. Das Ergebnis war der äußerst komplexe und teure „Space Pen“. Am anderen Ende der finanziellen und ideologischen Skala standen die russischen Kosmonauten. Sie fertigten ihre Aufzeichnungen im All mit ganz gewöhnlichen Bleistiften an, die es auch so überall zu kaufen gab – kostengünstig und effektiv.

 

Was Unternehmen lernen können

Der Begriff „frugale“ leitet sich vom Lateinischen „frugalis“ ab und lässt sich mit einfach, sparsam und nutzbar übersetzen. Dementsprechend steht bei Frugale Innovation die Konzentration auf die absolut notwendigen Grundfunktionen, entsprechend den Bedürfnissen einer klar definierten Kundengruppe, im Mittelpunkt. Sie haben die Entwicklung kapitalschonender, aber qualitativ hochwertiger Angebote zum Ziel, die für den Kunden einen hohen Nutzen aufweisen. Unternehmen begehen hier oft den Fehler einfach bestimmte Funktionen ihrer etablierten Produkte wegzulassen, um Kosten zu sparen und damit schnell auf die Märkte gehen zu können. Frugale Produkte sind jedoch ausgefeilte Neuentwicklungen, die sich hinsichtlich der Reduktion von Kosten und Komplexität technisch höchst anspruchsvoll gestalten. Für die Unternehmen bedeutet das, sich noch intensiver mit den tatsächlichen Wünschen und Bedürfnissen der Zielgruppe auseinanderzusetzen, um einen klaren Fokus für die Produktentwicklung zu generieren. Die Interaktion mit den potenziellen Kunden und deren Feedback muss elementarer Bestandteil der Innovationsstrategie werden. Das funktioniert nur, wenn die Kollaboration mit den Kunden auf der unternehmerischen Seite auch mit entsprechend schnellen und agilen Entwicklungszyklen begleitet wird.

 

Es lohnt sich, die neuen Wachstumsmärkte genauer zu betrachten. Denn in den Entwicklungs- und Schwellenländern – wie Indien, China oder Brasilien – entstanden die ersten frugalen Innovationen. Gerade hier sind die Anforderungen völlig andere als in der westlichen Welt. Die Menschen fragen nach robusten und bezahlbaren Produkten, die mit wenig Ressourcen auskommen. Wie zum Beispiel der Kühlschrank „Mitticool“ aus Indien, welcher komplett ohne Strom betrieben wird. Konzipiert in der Not nach einem verheerenden Erdbeben, nutzt der „Mitticool“ den Verdunstungseffekt von Wasser in ineinander gestellten Tontöpfen. Dadurch schafft er es, den Innenraum auf bis zu acht Grad weniger als die Außentemperatur abzukühlen. Der batterielose Kühlschrank ist ein wunderbares Beispiel für den Ursprung Frugaler Innovation – oft auch als „Jugaad Innovation“ oder „Grassroot Frugal“ bezeichnet. Damit sind improvisierte Lösungen gemeint, die mit den limitierten, vor Ort verfügbaren Ressourcen entwickelt werden. Dahinter stecken meist einzelne Individuen, die Teil der Zielgruppe des fertigen Produkts sind und primär aus sozialen oder ökologischen Motiven handeln. Dinge einfacher zu machen und ressourcenschonend zu produzieren, bedeutet aber nicht, dass letztendlich ein qualitativ schlechteres Produkt herauskommt – das Gegenteil ist der Fall.

 

Die Vorteile dieser Ansätze werden mittlerweile bereits von einigen Unternehmen adaptiert. Hinter dem Begriff „Corporate Frugal“ verbirgt sich die Anpassung von Organisationen an neue Kundensegmente und Märkte, die mit hochwertigen aber preisgünstigen Gütern versorgt werden wollen. Den Impuls für diese methodische Professionalisierung von Frugale Innovation geben die ökonomischen und sozialen Veränderungen in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Denn die Weltwirtschaft erhält in den nächsten 10 bis 15 Jahren drei Milliarden neue potentielle Konsumenten. So viele Menschen werden in die globale Mittelschicht aufsteigen. Mittelschicht bedeutet höhere Kaufkraft und mehr Konsum. Rund 85 Prozent von ihnen werden aus Asien kommen, die meisten aus China oder Indien – ein enormer Markt. Für viele Unternehmen eine riesige Chance, ihre Produkte und Dienstleistungen einer breiten Masse zugänglich zu machen.

 

Kundenorientierung richtig umsetzen

Der intensive Austausch mit der anvisierten Zielgruppe und ein agiler Produktentwicklungsprozess werden die zentralen Elemente sein, um auf diesen schnell wachsenden und sich permanent verändernden Märkten erfolgreich zu sein. Aber auch auf den etablierten Märkten wird Kundenorientierung immer mehr zum entscheidenden Faktor. Die Unternehmen müssen neue Wege gehen und bereit sein, ihren Innovationsprozess für externe Ideen zu öffnen. Der Aufbau großer Communities für den direkten Austausch mit den Konsumenten steht hier an erster Stelle. So ist es möglich, die potenziellen Käufer und ihre Erwartungen frühzeitig in kollaborative Entwicklungsprozesse miteinzubeziehen, in iterativen Anpassungsschleifen Feedback einzuarbeiten oder breit angelegte Prototypentests durchzuführen. Für offene Kooperationsprojekte dieser Größenordnung benötigen die Unternehmen die entsprechende digitale Infrastruktur. Nur mit der Unterstützung durch die richtige Technologie ist es möglich, große Mengen an Informationen sinnvoll zu verwertbaren Daten zu verdichten. Das hilft die vielfältigen Diskussionen mit den Kunden, deren Ideen, Wissen und Feedback zu strukturieren und die wirklich relevanten Informationen für den Innovationsprozess zu extrahieren. So entstehen letztendlich Produkte und Dienstleistungen, die sich bestmöglich mit den Bedürfnissen der Konsumenten decken und in großen Teilen die Kriterien für Frugale Innovation praktisch umsetzen.